Aszetik - die Lehre von der geistlichen Übung - war lange Zeit ein Stiefkind der Praktischen Theologie. Die Frage, ob man Glauben üben kann, wurde bisher weit weniger bedacht, als die Frage, ob man Glauben lernen kann. Silke Harms untersucht die Bedeutung der Übung für die evangelische Theologie und Praxis. Sie weist nach, dass die Vermittlung von Inhalten des Glaubens in der Gegenwart notwendig einer Einübung in christliche Glaubensvollzüge bedarf. Exemplarisch nimmt Harms das ursprünglich aus jesuitischer Praxis erwachsene und seit den 90er Jahren verstärkt auch in der evangelischen Kirche populär gewordene Kursmodell der »Exerzitien im Alltag« in den Blick. Sie zeigt nicht nur den Weg dieser kirchengeschichtlich bemerkenswerten Übernahme der Exerzitien in evangelische Praxis auf, sondern legt dar, dass sich das geistliche Üben mit gutem Grund auf protestantisches Erbe beziehen lässt. Anhand einer ausführlichen Untersuchung der Schriften von Martin Luther und Friedrich Schleiermacher entfaltet die Autorin die Bedeutsamkeit dieser beiden Theologen für die evangelische Aszetik der Gegenwart. Geistliche Übung innerhalb der protestantischen Kirche zeichnet sich durch die Betonung der relational-kommunika¬tiven Dimension aus. Ihr Ziel ist nicht eine Meisterschaft, sondern eine Verwandlung durch die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Übung geschieht in der Polarität von Individualität und Sozialität, von Aktivität und Passivität und von gewöhnlichem Alltag und besonderen Zeiten und Orten. Evangelische Aszetik hat sicherzustellen, dass alle drei Dimensionen im Blick behalten werden und keine einseitige Beschränkung auf einen der jeweiligen Pole erfolgt.
Dr. theol. Silke Harms ist Referentin des Geistlichen Zentrums Kloster Bursfelde in der Landeskirche Hannover.