Rudolf Stich war ein »Meister der Chirurgie« und Lehrer einer ganzen Chirurgengeneration. Stich war Ehrenbürger der Stadt Göttingen, Träger der Albrecht-von-Haller-Medaille und des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland. Doch das Leben von Rudolf Stich, dem am 19. Juli 1875 geborenen Arztsohn, lässt sich auch anders referieren: »Förderndes Mitglied« der SS, Mitglied der SA, der NSV und der NSDAP, Dekan der Medizinischen Fakultät bis 1945. Ebenso leitete er von 1911 bis 1945 die Chirurgische Klinik, deren Mitarbeiter unter seiner Verantwortung auf Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung zur »Verhütung erbkranken Nachwuchses« Zwangssterilisationen durchführten.Wie hat Rudolf Stich aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen als Hochschullehrer, Arzt und Vertreter der bürgerlichen Lebensweise seine biographischen Prägungen und die Traditionen seines Faches mit der NS-Ideologie verknüpft? Und: Welche Faktoren sind maßgebend dafür verantwortlich, dass Stich trotz seiner im Nationalsozialismus eingenommenen Rollen positiv in das Gedächtnis von Universität, Stadt und Berufsstand eingegangen ist? Das Leben von Rudolf Stich wird dabei gleichsam wie bei einem Blick durch ein Kaleidoskop aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dabei geht es nicht um Verurteilung oder Entschuldung der Person Rudolf Stich, sondern um die Untersuchung eines Repräsentanten und seiner konkreten Handlungsräume innerhalb des universitären Göttinger Milieus.
Dr. Stine Marg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.