Ines Pollmann macht Entstehung der paulinischen Gesetzeskritik historisch plausibel und untersucht, ob es im Judentum potenziell gesetzeskritische Motive gab, an die Paulus sachlich und sprachlich anknüpfen konnte. In vier Texten werden solche Motive manifest und in der Regel zurückgewiesen. Diese Motive werden in breitere Mentalitätsströme im Judentum eingebettet und damit als repräsentativ und resonanzfähig erwiesen: Die Kritik des Simri spiegelt Akkulturationstendenzen im Judentum, pessimistische Aussagen über den Menschen finden sich in Qumrantexten, im Diasporajudentum gab es eine Tendenz zur spirituellen Auffassung der Thora und auch die Abwertung eines später eingeführten Gesetzes ist im Judentum bezeugt. Diese innerjüdischen Strömungen sind ihrerseits in allgemein antike Traditionen eingebettet: in die sophistische Gesetzeskritik, in ein Bewusstsein der Unvollkommenheit des Menschen, in eine allegorisierende Auslegung religiöser Traditionen und eine Hochschätzung des Alten und Ursprünglichen. Pollmann zeigt auf, dass Paulus die verschiedenen Motive aufgriff, zum ersten Mal kombinierte und aufgrund seines Christusglaubens zu einer Gesetzeskritik zuspitzte. Seine Haltung zum Gesetz ist ambivalent und verbindet Hochschätzung vor dem Gesetz mit Kritik an seinen Schattenseiten.
Dr. theol. Ines Pollmann ist Vikarin der Rheinischen Landeskirche in Kempen am Niederrhein.