Meist werden die Evangelien interpretiert, ohne dass man in ihnen Bezugnahmen auf Paulus und seine Theologie sieht. Eric Kun Chun Wong vertritt dagegen die These, dass alle drei synoptischen Evangelien in einem Dialog mit Paulus stehen. Das Markusevangelium teilt mit ihm eine Reihe von Jesusüberlieferungen, die es meist so interpretiert, dass es gegen Paulus zu deren ursprünglichen Sinn zurückkehren will. Es nimmt seinen Evangeliumsbegriff auf, wandelt ihn ab, steht aber durch seine theologia crucis Paulus sehr nahe. Das Verhältnis des Markus-Evangelisten zu Paulus ist kritisch-neutral. Das Matthäusevangelium polemisiert dagegen an mehreren Stellen gegen Paulus und setzt dessen Evangeliumsverkündigung unter den Völkern seine eigene Verkündigung mit einem stärkeren Akzent auf der ethischen Verkündigung Jesu entgegen. Anders der Verfasser des lukanischen Doppelwerks: Er bewundert Paulus. Er bringt seine Rechtfertigungslehre in einer Form, die schon bei Paulus Tradition war. Methodisch wird die Erschließung dieses Dialogs durch Intertextualitätsforschung möglich. Der Dialog mit anderen Texten ist nicht daran gebunden, dass Texte wörtlich oder in ihrem ursprünglichen Sinn aufgenommen werden. Geschichtlich ist ein solcher Dialog sehr wahrscheinlich: Alle drei synoptischen Evangelien setzen die Heidenmission des Paulus voraus und wären ohne sie nie entstanden. Es ist unwahrscheinlich, dass ihre Verfasser keine Kenntnisse von Paulus und seiner Theologie hatten, auch wenn diese Kenntnisse nicht durch Briefe vermittelt sein müssen.
Dr. Eric Kun Chun Wong ist Professor und stellvertretender Direktor der Divinity School sowie Fachbereichsleiter Theologie an der Chinesischen Universität von Hong Kong.