»Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden«, schrieb Friedrich Nietzsche über den französischen Philosophen Michel de Montaigne. Montaignes berühmte Essais liegen hier, übersetzt von Hans Stilett, vollständig vor. »Ich gehöre zu denen, die am stärksten gegen diese Gemütsbewegung gefeit sind, und weder liebe noch achte ich sie, obgleich alle Welt sich wie auf Absprache in den Kopf gesetzt hat, sie vorrangig mit ihrem Wohlwollen zu beehren. Die Weisheit, die Tugend und das Gewissen werden damit drapiert - was für eine alberne und abstoßende Aufmachung! Die Italiener haben viel zutreffender auch die Erbärmlichkeit auf den Namen tristizia getauft; und in der Tat ist die Traurigkeit stets schädlich, stets abwegig, und da überdies stets feige und niedrig, verbieten die Stoiker ihren Weisen, sich ihr zu überlassen. Freilich wird auch folgende Geschichte erzählt: Als der ägyptische König Psammetich, vom Perserkönig Kambyses geschlagen, in dessen Hände gefallen war und eines Tages seine ebenfalls in Gefangenschaft geratne Tochter auf dem Weg zum Wasserschöpfen als Dienstmagd gekleidet vorübergehen sah, blieb er im Gegensatz zu seinen Freunden, die um ihn herum zu weinen und wehklagen begannen, völlig gefaßt und hielt den Blick, ohne ein Wort zu sagen, starr zu Boden gerichtet. Selbst als man bald darauf vor seinen Augen seinen Sohn zur Hinrichtung führte, bewahrte er die gleiche Haltung. Da aber erblickte er unter den Gefangnen, die gerade weggeführt wurden, einen seiner Vertrauten, und nun erst begann er sich ans Haupt zu schlagen und äußersten Schmerz zu bekunden. Dies ließe sich mit dem vergleichen, was man neulich bei einem unserer Fürsten beobachtet hat: Als er in Trient weilte und die Nachricht vom Tod seines ältesten Bruders erhielt, der zugleich Stütze und Ehre des ganzen Hauses war, und bald danach die vom Ableben eines jüngeren Bruders, seiner zweiten Hoffnung, ertrug er die beiden Schickalsschläge mit beispielhaftem Gleichmut. Einige Tage später jedoch starb einer von seinen Leuten, und von diesem letzten Unglück ließ sich der Fürst nun völlig überwältigen: Derart verlor er hierüber die Fassung, derart gab er sich seinem Schmerz und seiner Wehmut hin, daß einige daraus folgerten, nur die letzte Unglücksbotschaft habe ihn ins Mark getroffen. In Wahrheit verhielt es sich aber so, daß bei ihm, der von Traurigkeit bereits erfüllt, ja übervoll war, das kleinste Mehr genügte, die Grenzen des Erträglichen zu durchbrechen. Man könnte, meine ich, unsre obige Geschichte genauso auslegen, wäre darin nicht hinzugefügt, daß Kambyses sich bei Psammetich erkundigte, warum er angesichts des Unglücks seines Sohns und seiner Tochter unbewegt geblieben sei, während er das seines Vertrauten kaum habe ertragen können. >Darum<, antwortete er, >weil nur dieses letzte Leid sich in Tränen zu offenbaren vermag, während das der ersten beiden Schicksalsschläge jedes Maß des Ausdrückbaren weit überschreitet.<«
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