Die Frage nach der Weisheit Jesu von Nazareth, die schon in Mk 6,2 (»Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist?«) gestellt wurde, ordnet Andreas Grandy forschungsgeschichtlich sowohl im Rahmen der jüdischen Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit als auch anhand der wissenschaftlichen Fragestellungen und Antwortversuche der neutestamentlichen Forschung der letzten Jahrzehnte ein. Unter Verwendung von ausgewählten Weisheitslogien aus den synoptischen Evangelien zeigt Grandy die jesuanische Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens und des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes Schritt für Schritt auf; schärft ihr Profil im innerjüdischen und interkulturellen Vergleich mit der griechisch-römischen Umwelt und führt unter dem Stichwort der Weisheit der Gottesherrschaft einer neuen synthetischen Darstellung zu. Jesuanische Weisheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie die traditionell-weisheitliche Ruhe der Geschichte aufbricht und die apokalyptisch-weisheitliche Dramatik hinter den Kulissen irdischen Geschehens umwandelt in eine lebensförderliche Dynamik innerhalb der Geschichte. Aufgrund dieser Dynamik können Freiräume des Heilens und Heilwerdens im Rahmen der sich bereits machtvoll realisierenden Gottesherrschaft eröffnet werden. Im Hinblick auf das menschliche Handeln folgt daraus die jesuanische Provokation, die Gegenwart in der Macht der Gottesherrschaft aktiv umzugestalten: anfanghaft, fragmentarisch und in beständigem Scheitern und Hoffen. Dies ist eine bleibende Aufgabe christlicher Existenz: Kirchen müssen zu jenen Orten gehören, die davon geprägt sind, dass Gottes Wille geschieht.
Dr. theol. Andreas Grandy ist Mittelschullehrer für Mathematik und Religion an der Kantonsschule Solothurn.