Das Amosbuch in seiner vorliegenden Form lebt aus der Spannung zwischen den Worten des Propheten, die um die Mitte des 8. Jahrhunderts gesprochen wurden, und ihrer mehrfachen Aktualisierung auf neue geschichtliche Situationen hin, die in den folgenden Jahrhunderten erfolgte. Während die frühere Amosforschung ihr Schwergewicht auf die Rekonstruktion der mündlichen Worte hinter dem schriftlichen Text legte, geht der vorliegende Kommentar von der Erkenntnis aus, daß das Amosbuch in seinem Aufbau und in entscheidenden Aussagen aus der Exilszeit stammt. Primär spiegelt es die Orientierung wider, die die Exilsgemeinde aus den Worten des Amos empfing. Selbst das älteste schriftlich greifbare Amosbuch setzt schon den Fall Samarias drei Jahrzehnte nach Amos voraus, reflektiert also die Worte des Amos nach ihrer Teilerfüllung aus dem Rückblick und bezieht sie auf analoge Worte Hoseas. Die Überlieferung ist nur in zweiter Linie an den historischen Umständen des Amoswortes interessiert, primär aber an ihrer Gültigkeit für nachgeborene Generationen.
Dr. theol. Jörg Jeremias ist Professor em. für Altes Testament an der Universität Marburg und lebt in München.