Seit der Wende zur Redaktionsgeschichte werden die Evangelien in der Bibelwissenschaft als von ihren Autoren resp. Redaktoren entworfene Schriften verstanden. Das zugrunde liegende Textmodell versteht den Evangelisten/Redaktor als Gegenüber einer Gemeinde, für die er seine Theologie narrativ entfaltet. In dieser Konzeption gerät die Gemeinde, die als Erinnerungsgemeinschaft hinter den Texten steht, aus dem Blick, da sie nicht als Trägerin, sondern als Empfängerin der in diesem Text verschriftlichten Jesuserinnerung verstanden wird. Die vorliegende Studie siedelt sich an der Schnittstelle von Theologie und Kulturwissenschaft an und fragt nicht literarkritisch-genetisch, sondern produktionsästhetisch-gedächtnistheoretisch nach dem Phänomen der Evangelien. Sie entwickelt ein Modell des Markusevangeliums als diskursiv verfertigter, episodisch strukturierter und narrativ entfalteter Erinnerungstext, das am Makrotext des Evangeliums expliziert wird. Wie Erinnerungstexte im Markusevangelium im Einzelnen strukturiert sind und die Identität der Erinnerungsgemeinschaft im Spiegel ihrer Jesuserinnerung konstruiert ist, wird schließlich anhand des Textsegments Mk 6,6b-8,26, das Alltagserfahrungen wie Essen, Gesundheit und kultische Reinheit thematisiert und insbesondere anhand narratologischer Verfahren genauer untersucht. So ist die Studie einerseits ein Stimulans zur Methodenreflexion in der Markusforschung und andererseits ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch.
PD Dr. Sandra Hübenthal ist Privatdozentin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und lehrte in den vergangenen Jahren an den Universitäten Basel, Franfurt, Köln, Saarbrücken, der RWTH Aachen sowie der Hochschule Sankt Georgen. Derzeit hat sie eine Lehrvertretung an der University of St. Andrews inne.